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cc) Die Rili als Spiegel von Gewohnheitsrecht?

Im Zusammenhang mit der Prüfung außergesetzlichen Quellen des Standesrecht ist zu erwähnen, dass angenommen wurde, die Rili könnten als Nachweis und darüber hinaus für die Bildung von Gewohnheitsrecht wichtig werden (108). Lingenberg hat sogar angenommen, dass das materielle, aber ungeschriebenen Standesrecht als Gewohnheitsrecht anzusehen sei (109). Auch Kalsbach meinte, die "allgemeine Standesauffassung" stehe als Umschreibung dafür, dass das Anwaltsrecht im wesentlichen Gewohnheitsrecht sei (110). Für das Werden und Wachsen dieses Gewohnheitsrechts seien die Rili von besonderer Bedeutung (111). Schmalz hat als Rechtsquelle des Standesrechts besonders die Standesübung, "häufig zu Gewohnheitsrecht verdichtet", angesehen (112). Es gehe dabei um Verhaltensmuster und Regeln, die sich in der Praxis des täglichen Lebens als allgemeine Überzeugung des Berufsstandes herausgebildet hätten (113).

Konsequenterweise müssten dann die Rili, soweit sie dieses ungeschriebene Recht tatsächlich widerspiegeln, als eine Darstellung desselben angesehen werden. Dementsprechend meinte Starck, die Rili seien aufgezeichnete Observanz (114). Demzufolge wären die in ihnen enthaltenen Regeln - mit der genannten Einschränkung - als Gewohnheitsrecht anzusehen.

Neuhäuser vertrat demgegenüber die Ansicht, Spekulationen in der Richtung, dass es sich bei den Rili um Gewohnheitsrecht handeln könne, seien ausgeschlossen (115), da es sich hierbei um den Versuch einer Fixierung der Standessitte handele (116).

Warburg meinte, gegen die Annahme, dass sich Standesrecht regelmäßig oder überwiegend durch Gewohnheitsrecht bilde, sprächen erhebliche Gründe (117). Die "communis opinio" der bundesdeutschen Anwaltschaft könne schon deshalb nicht Grundlage eines Gewohnheitsrechts sein, weil die Anwaltschaft nicht berufen sei, über ihre Standespflichten durch Bildung einer eigenen Rechtsüberzeugung allein zu disponieren (118). Die Berufspflicht des Anwalts bestimme sich vielmehr nach der Vorstellung, die über ihn in der Allgemeinheit bestehe und die seiner Rechtsstellung entspräche (119). Auch gäbe es tatsächliche Schwierigkeiten überhaupt eine gemeinsame Rechtsauffassung aller Anwälte festzustellen (120). Ferner widerspreche die Auffassung, dass Gewohnheitsrecht die einzige oder praktisch bedeutsame Rechtsquelle des Standesrechts sei, den Interessen der Anwaltschaft, weil sie zur Folge hätte, dass sich Standesrecht nur unter erschwerten Voraussetzungen ändern könnte, was für die Praxis bedeute, dass sich neues Standesrecht erst und nur dann bilden könnte, wenn eine repräsentative Mehrheit von Anwälten aufgrund gemeinsamer Rechtsüberzeugung gegen zunächst noch geltendes Standesrecht verstoßen hätte (121).

Husmann meinte, es wäre verfehlt im Zusammenhang mit des Standespflichten von der Bildung eines Gewohnheitsrechts zu sprechen (122). Gewohnheitsrecht könne sich nur durch freie, allgemeine Rechtsüberzeugung in der bürgerlichen Gemeinschaft bilden (123); psychischer Zwang hindere die Entstehung (124). Dieser werde jedoch durch die Zwangskorporierung mit Hilfe des Disziplinarinstrumentariums unaufhörlich auf den Rechtsanwalt ausgeübt (125). Der Ehrenkodex werde von der Standesobrigkeit mit staatlicher Gewalt faktisch aufgezwungen (126).

Zuck hat gemeint, die Rili könnten nur dann Gewohnheitsrecht darstellen, wenn mit ihrer Befolgung eine als bestehend vorausgesetzte Rechtspflicht befolgt werde. Die Auffassung, die Rili enthielten selbst Rechtspflichten oder verwiesen auf solche, werde jedoch überwiegend und für den Regelfall abgelehnt. Wer die Rili unmittelbar befolgt, folge damit nur der Standesüberzeugung. Solange die höchstrichterliche Rechtsprechung einhellig die Rechtsqualität der Rili verneine, könne sich ein solches "überwiegendes Bewusstsein" auch kaum entwickeln. Soweit die Rechtspflicht als außerhalb der Rili iegend angenommen werde, werde es im Bereich des Standesrechts dafür in der Regel schon deshalb keinen Raum geben, weil die Rechtspflichten nach herrschender Meinung durch § 43 BRAO begründet würden. (127)

Jarass hat Bedenken dagegen angemeldet, dass (damals) 30 Jahre nach Erlass des Grundgesetzes vorkonstitutionelles Gewohnheitsrecht anwaltliche Berufspflichten begründen und Grundrechtseinschränkungen rechtfertigen könne. 30 Jahre nach Erlass des Grundgesetzes lasse sich auch die Frage stellen, ob nicht alles vorkonstitutionelles Gewohnheitsrecht zu nachkonstitutionellem geworden sei, weil Gewohnheitsrecht wesensgemäß sozusagen laufend erzeugt werde. (128)

Sue hat die Ansicht vertreten, es verbiete sich, die Rili in ihrer Gesamtheit als aufgezeichnetes Gewohnheitsrecht anzusehen (129). Dafür gebe nämlich weder der Wortlaut des § 177 II Nr. 2 BRAO einen Anhaltspunkt, noch gewährleiste das Rili-Feststellungsverfahren die Berücksichtigung beider Komponenten des Gewohnheitsrechts, insbesondere derjenigen der langjährigen tatsächlichen Übung (130).

Sie hat es jedoch nicht für ausgeschlossen gehalten,dass einzelne Rili-Bestimmungen gewohnheitsrechtlichen Charakter haben könnten, was aber im Einzelfall aufgrund selbständiger Prüfung festzustellen sei (131).

Das Bundesverfassungsgericht hat in einigen Entscheidungen untersucht, inwieweit Gewohnheitsrecht zur Begründung anwaltlicher Berufspflichten oder von Eingriffen in die anwaltliche Berufsausübung in Betracht kommt (132), aber lediglich hinsichtlich der Pflicht zur Tragung der Amtstracht (s.a. § 11 Rili) eine gewohnheitsrechtliche Begründung bejaht (133).

In ständiger Rechtsprechung geht das Bundesverfassungsgericht allerdings davon aus, dass das Grundrecht der Berufsfreiheit aus Art. 12 I GG nur durch vorkonstitutionelles Gewohnheitsrecht eingeschränkt werden kann (134).

dd) Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vom 14.7.1987

Die beiden Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts vom 14.7.1987 (135) stellen eine Abkehr des höchsten deutschen Gerichtes von der bisher herrschenden Auffassung und der bisherigen eigenen Rechtsprechhung dar.

Das Bundesverfassungsgericht entschied, dass es an der bisherigen - auch eigenen - Beurteilung der Standesrichtlinien nicht festhalte (136). Nunmehr sollen die Rili keine ausreichende Grundlage mehr für Einschränkungen der anwaltlichen Berufsausübung bilden (137).

Die Standesrichtlinien kommen künftig weder als normative Regelung der anwaltlichen Berufspflichten noch als rechtserhebliches Hilfsmittel zur Konkretisierung der Generalklausel in Betracht (138). Lediglich für ein Übergangsfrist kann ihnen noch eine begrenzte rechtserhebliche Funktion beigemessen werden (139). In dieser Übergangszeit darf die bisherige Rechtspraxis aber nicht ohne weiteres fortbestehen (140). Vielmehr kann in dieser Zeit auf die Standesrichtlinien nur noch zurückgegriffen werden, soweit sie den materiellrechtlichen Anforderungen an Grundrechtseinschränkungen - hier gemäß Art. 12 I 2 GG - genügen und soweit dies zur Aufrechterhaltung einer funktionsfähigen Rechtspflege unerläßlich ist (141). Insbesondere kann es auf das bloße Ansehen der Anwaltschaft nur ankommen, wenn es über bloße berufsständische Belange hinaus im Allgemeininteresse liegt (142).

In Übereinstimmung mit der diesbezüglichen bisherigen Rechtsprechung (143) hat das Gericht die verfassungsrechtlichen Anforderungen dahingehend bestimmt, dass Eingriffe in die Berufsfreiheit des Anwalts als Berufsausübungsregelungen nur statthaft sind, soweit sie sich durch vernünftige Gründe des Gemeinwohls rechtfertigen lassen und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen (144), wobei davon auszugehen ist, dass die anwaltliche Berufsausübung grundsätzlich der freien und unreglementierten Selbstbestimmung des einzelnen unterliegt (145). Dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist danach dann genüge getan, wenn das gewählte Mittel zur Erreichung des verfolgten Zweckes geeignet und auch erforderlich ist und wenn bei einer Gesamtabwägung zwischen der Schwere des Eingriffs und dem Gewicht der ihn rechtfertigenden Gründe die Grenze der Zumutbarkeit noch gewahrt ist (146).

Was danach noch von den Rili herangezogen werden kann, wird sich nach Ansicht des Gerichts im wesentlichen mit den Berufspflichten decken, welche die Ehrengerichte unmittelbar aus der Generalklausel oder aus unbestritten fortgeltendem vorkonstitutionellem Gewohnheitsrecht hergeleitet haben; das Bundesverfassungsgericht fordert insbesondere, die Rili nur zurückhaltend und unter Konzentration auf ihren Kerngehalt heranzuziehen (147).

Hinsichtlich des Sachlichkeitsgebots (148) weist das Bundesverfassungsgerichtnoch darauf hin, es sei in den Rili derart weitgefasst, dass seine verfassungsrechtliche Beurteilung selbst dann zu Bedenken Anlass geben würde, wenn es auf einer ausdrücklichen normativen Grundlage beruhen würde (144). Daher entfiele hier auch die sonst übliche Funktion der Rili als Erkenntnisquelle und Orientierungshilfe im wesentlichen (149)).

Zur Begründung seiner Entscheidung führt das Bundesverfassungsgericht zunächst aus, dass das verfassungsrechtlich vorgeschriebene Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage zur Regelung der Berufsausübung beruhe nach seiner Rechtsprechung darauf, dass einerseits das Grundrecht der Berufsfreiheit die menschliche Persönlichkeit, die nach der Ordnung des Grundgesetzes der oberste Rechtswert ist, in einem für ihre Selbstbestimmung in der arbeitsteiligen Industriegesellschaft besonders wichtigen Bereich schützt, dass andererseits die Inanspruchnahme dieser Freiheit mit den Belangen der Allgemeinheit in Einklang gebracht werden muss und dass die Abwägung, gegenüber welchen Gemeinschaftsinteressen und wie weit das Freiheitsrecht des einzelnen zurücktreten muss, in den Verantwortungsbereich des Gesetzgebers fällt (150). Vor allem das Parlament sei dazu berufen, über diese Fragen zu entscheiden; solche Regelungen seien innerhalb bestimmter Grenzen aber auch in Gestalt von Satzungen zulässig, die von einer mit Autonomie ausgestatteten Körperschaft erlassen werden (151).

In Übereinstimmung mit der bisher herrschenden Auffassung (152) stellt das Gericht dann fest, dass die Rili weder Rechtsnormen im Sinne des Art. 12 I 2 GG sind, noch die Rechtsnatur von autonomen Satzungsrechts haben, weil die BRAO zum Erlass eines solchen Satzungsrechts keinerlei Ermächtigung durch den Gesetzgeber enthält (153).

Werden die Rili zutreffend als bloßer Niederschlag vorhandener Standesauffassung verstanden, könnten sie nach Ansicht des Gerichts weder Rechtsklarheit noch Rechtssicherheit bewirken; vor allem seien die in ihrer Immobilität ungeeignet, auf umstrittenen Gebieten Lösungen herbeizuführen oder das überlieferte Standesrecht entsprechend den veränderten politischen, wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen rechtsgestaltend fortzuentwickeln (154).

Ausschlaggebend sei darüber hinaus, dass bloße Standesauffassungen jedenfalls dann nicht ausreichen könnten, um eine Grundrechtseinschränkung zu legitimieren, wenn der Gesetzgeber bei der Normierung der Berufspflichten selbst nicht darauf Bezug nimmt (155). Die deklaratorische Feststellung einer vorhandenen communis opinio könne keine Regelung sein, die den vom Gericht aus Art. 12 I GG hergeleiteten Erfordernissen entspreche und zwar um so weniger, wenn dabei lediglich auf die Meinung angesehener und erfahrener Standesgenossen abgestellt wird (155). Sie lasse keinen Raum für eine Prüfung und Entscheidung des Normgebers, ob die Einschränkung der Berufsfreiheit jeweils durch vernünftige Gründe des Gemeinwohls gerechtfertigt wird und ob die vom Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gesetzten Grenzen eingehalten werden; sie genüge nicht einmal den für Satzungsrecht geltenden Anforderungen, da sie keinen Unterschied mache zwischen statusbildenden, dem Gesetzgeber vorbehaltenen Regelungen und solchen, zu denen auch Berufsverbände ermächtigt werden dürfen (156).

Die Notwendigkeit einer Übergangsfrist begründet das Bundesverfassungsgericht damit, dass ohne die Rili ein nicht unerhebliches Element fehle, das bislang die Nachteile der nur generalklauselartigen Umschreibung der Berufspflichten abgemildert habe. Es gelte einen Zustand zu vermeiden, der der verfassungsmäßigen Ordnung ferner stünde als der bisherige. (157)

ee) Zur nunmehrigen Rechtslage

Die beiden Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts haben eine neue und einzigartige Situation in der bisherigen Entwicklung des anwaltlichen Berufs- und Standesrechts geschaffen: Nicht einzelne Vorschriften, sondern ein ganzes Regelungssystem ist verfassunsrechtlich nicht zu halten und in seinen Grundgedanken nur noch für eine Übergangszeit und bei Beachtung sehr enger Voraussetzungen anwendbar (158).

Das Bundesverfasssungsgericht selbst ist der Ansicht, mit den genannten Entscheidungen vom 14.7.1987 habe es die bestehenden verfassungsrechtlichen Fragen hinreichend geklärt (159).

Bedeutung und Konsequenzen der jüngsten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind jedoch in der Literatur keineswegs unumstritten (160). Die Experten streiten über Inhalt und Ausmaß der beiden Urteile (161).

Abschließende Erkenntnisse und Ergebnisse kann es noch nicht geben (162). Klarheit im Detail wird möglicherweise erst die durch diese Entscheidungen notwendig gewordene, vom Gesetzgeber ausgehende Neuregelung des anwaltlichen Standesrechts bringen.

Für die Übergangszeit liegt das Standesrecht in den Händen der Fachgerichtsbarkeit (163), insbesondere der Ehrengerichtsbarkeit, und die Standespraxis in den Händen der Anwälte, die aufgefordert sind, die entstandene Grauzone nicht als Freibrief für die Mißachtung anwaltlicher Berufspflichten zu verstehen (164) und einer Verwilderung anwaltlicher Sitten und Gebräuche entgegenzuwirken (165)).

Die Anwaltschaft soll nach dem Bekanntwerden der beiden Entscheidungen bemerkenswerte Ruhe und Selbstdisziplin bewahrt haben; lediglich einzelne Anwälte sollen zunächst versucht haben, aus dem bisherigen Komment auszubrechen, die meisten von ihnen sollen aber dazu bewogen worden sein, sich auch künftig an die Spielregeln zu halten (166).

c) Einzelne Standespflichten

Im folgenden sollen bei der Erörterung der einzelnen Standespflichten, die für die in dieser Arbeit untersuchten Problematik bedeutsam erscheinen, untersucht werden, inwieweit die einschlägigen Rili-Bestimmungen den Kriterien der Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen entsprechen und inwieweit sie daher übergangsweise noch als Hilfsmittel zur Konkretisierung der Generalklausel des § 43 BRAO herangezogen werden können.

Vorkonstitutionelles Gewohnheitsrecht spielt im Rahmen des Untersuchungsgegenstandes dieser Arbeit kaum eine Rolle. Zweifelhaft ist bereits, ob mehr als 40 Jahre nach Inkrafttreten des Grundgesetzes vorkonstitutionelles Gewohnheitsrecht anwaltliche Berufspflichten noch begründen kann (167). Selbst wenn man dies bejaht, wie es das Bundesverfassungsgericht offenbar tut (168), so findet man in den Aufzählungen einschlägiger gewohnheitsrechtlicher Regeln (169) nichts, was in Bezug auf die Probleme von Beschäftigungsverhältnissen unter Anwälten relevant sein könnte. Ausgenommen sind allenfalls die Feststellungen in § 43 Rili, das Werbeverbot und das Abwerbungsverbot.

Feuerich allerdings meint, gerade das anwaltliche Berufsrecht sei durch eine Fülle von vorkonstitutionellem Gewohnheitsrecht geprägt. Es werde nunmehr vermehrt Anlass bestehen zu prüfen, ob ein Verhalten eines Rechtsanwalts dem gewachsenen vorkonstitutionellem und fortgeltendem Gewohnheitsrecht widerspricht.

Dabei werde sich ergeben, dass eine Vielzahl der Bestimmungen aus den Grundsätzen des anwaltlichen Standesrechts, jedenfalls soweit sie unmittelbar die Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit der Rechtspflege bezwecken, nur eine Feststellung dieses vorkonstitutionellen Gewohnheitsrechts sei. (170)

Kleine-Cosack hält dagegen die Anerkennung vorkonstitutionellen Gewohnheitsrechts nicht nur für prinzipiell problematisch. Das es bei Berufspflichten in der Regel ohnehin nicht nachweisbar sei, solle man sich nun nicht auf eine intensive Suche danach begeben. Der Rekurs auf vorkonstitutionelles Gewohnheitsrecht sei wegen der Weite der Generalklausel letztlich überflüssig. Entscheidend sei ohnehin die materielle Grundrechtskonformität der einzelnen Berufspflichten. (171)

Auch Feuerich vertritt die Auffassung, dass das fortgeltende vorkonstitutionelle Gewohnheitsrecht einer Nachprüfung anhand des Grundrechtskatalogs des Grundgesetzes standhalten muss (172).

Pietzcker meint, dass der Rückgriff auf vorkonstitutionelles Gewohnheitsrecht letztlich ohne praktische Bedeutung sein mag, weil sich der Bereich des Unerlässlichen mit dem des wirklich unbestrittenen vorkonstitutionellen Gewohnheitsrechts decken mag. Es erschiene aber in der Sache überzeugender, von diesem Rückgriff abzusehen. Die Konstruktion eines heute fortgeltenden vorkonstitutionellen Gewohnheits-Standesrechts sei gewagt. Nachdem einige Standes- oder Berufspflichten durch nachkonstitutionelles Gesetz ausdrücklich geregelt, andere in "Auslegung" von § 43 BRAO fortentwickelt seien, sei eigentlich für ein vorkonstitutionelles Gewohnheitsrecht kein Raum mehr. (173)

Probleme wirft in dieser Hinsicht nur das Abwerbungsverbot (§ 88 Rili) auf. Diese werden bei der Erörterung desselben behandelt.

aa) Die Pflicht, das Vertrauensverhältnis zum Auftraggeber zu wahren

§ 43 Rili (Überschrift: Vertrauensverhältnis zum Auftraggeber) stellt fest:

"Die Beziehungen zwischen Rechtsanwalt und Auftraggeber beruhen auf einem Vertrauensverhältnis. Deshalb ist die Annahme eines Auftrages in allen Fällen ausgeschlossen, in denen dieses Vertrauensverhältnis nicht bestehen kann; entsprechendes gilt in der Regel für die Beibehaltung eines Auftrages."

Auch § 1 I 2 Rili spricht von "anvertrauten" Interessen (die der Rechtsanwalt sachlich zu vertreten hat).

Das Vertrauensverhältnis zum Auftraggeber ist bei der Erörterung der Frage bedeutsam, inwieweit der dienstberechtigte Anwalt anwaltliche Aufgaben delegieren darf. Es spielt auch bei Konflikten, die sich im Zusammenhang mit der eigenverantwortlichen Tätigkeit des Dienstnehmers ergeben, eine Rolle.

In Bezug auf diese Problematiken bieten die angeführten Rili-Bestimmungen gegenüber der Generalklausel, insbesondere § 43 S. 2 BRAO, kaum eine nähere Orientierung. Demgemäß meint der BRAK-Richtlinienausschuss, es handele sich lediglich um eine Beschreibung ohne Eingriffscharakter (174).

Lediglich § 43 S. 2 Rili kann als zutreffende Konkretisierung von § 43 S. 2 BRAO angesehen werden. Die dort ausgesprochene Pflicht, Aufträge nicht anzunehmen bzw. zu beenden, wenn es an einem Vertrauensverhältnis fehlt, muss im Interesse einer funktionsfähigen Rechtspflege auch als unverzichtbar angesehen werden. Der BRAK-Richtlinienausschuss meint, es handele sich hierbei um eine zivilrechtlich begründete Selbstverständlichkeit, die im übrigen aber unerlässlich für eine funktionsfähige Rechtspflege sei und auch in vorkonstitutionellem Gewohnheitsrecht ihre Grundlage habe (175).

Zuck geht davon aus, dass die Vertrauensbasis der Anwalts - Mandantenbeziehung zivilrechtlich fundiert ist, im übrigen aber in vorkonstitutionellem Gewohnheitsrecht ihre Grundlage habe (176). In seinem Entwurf einer Berufsordnung des Rechtsanwalts ("BORA-E") übernimmt er die Feststellungen des § 43 Rili mit einer geringen stilistischen Änderung als § 25 (177).

Bei den Beziehungen des Anwalts zum Mandanten geht es um das Herzstück anwaltlicher Tätigkeit überhaupt (178).

Das Vertrauen des Klienten ist zutreffenderweise als die unentbehrliche Basis für das anwaltliche Mandat bezeichnet worden (179). Der Klient ist in besonderen Maße auf das Wissen, Können und die Seriösität des

Mandatars angewiesen (180). Der Einzelne ist auf den Rat eines unabhängigen, seine Interessen vertretenden Anwalts angewiesen, um seine Position in ihren tatsächlichen Voraussetzungen und rechtlichen Möglichkeiten zu erkennen und zu gestalten (181). Die Beratung des Anwalts hat für den Mandanten nicht selten sogar existentielle Bedeutung (182). Der Mandant ist zur selbständigen und eigenen kritischen Beurteilung dessen, was für ihn getan wird, regelmäßig nicht in der Lage (183). Das Verhältnis des Anwalts zum Mandanten lebt daher vom Vertrauen des Mandanten, dass der von ihm beauftragte Anwalt sachlich richtig und in Form und Inhalt seriös verfährt (184). Zentrale Aufgabe des Standesrechts ist es daher, sicherzustellen, dass das rechtsuchende Publikum vor pflichtwidrig handelnden oder inkompetenten Anwälten geschützt wird (185).

Die Unabhängigkeit vom Staat wurde den Rechtsanwälten auch deshalb gewährt, um den Bürgern Rechtsberater zu geben, die deren Vertrauen genießen (186).

Die besondere Verantwortung des Rechtsanwalts ist auch das notwendige Gegenstück zum Beratungs- und Vertretungsmonopol, das der Anwaltschaft grundsätzlich im Rechtsberatungsgesetz eingeräumt ist, und zum Anwaltszwang im Bereich der Ziviljustiz (187). Auch unter diesem Aspekt ergeben sich besondere Pflichten gegenüber dem Mandanten (188). Die genannten Institutionen würden ihre Legitimation verlieren, sobald die Allgemeinheit der Leistungsfähigkeit und Seriösität der Rechtsanwaltschaft - und als pars pro toto dem einzelnen Anwalt - kein Vertrauen mehr entgegen brächte bzw. bringen könnte.

Jede Enttäuschung des Vertrauens des Mandanten schadet also der Funktion des Rechtsanwalts als unabhängigen Berater und Vertreter in Rechtsangelegenheiten und dem Allgemeininteresse an dieser Funktion. Daher darf der Anwalt auch kein Mandat annehmen oder fortführen, wenn er absehen kann oder befürchten muss, das Vertrauen des Mandanten zu enttäuschen.

Das Vertrauen des Rechtsanwalts in den Mandanten, insbesondere in dessen Zahlungsmoral oder Ehrlichkeit ihm gegenüber (189), ist in diesem Zusammenhang nur insoweit von Bedeutung, als da ss dessen Fehlen eine Beeinträchtigung der sachgemässen Ausführung des Auftrages erwarten lässt (190). Im übrigen ist es eine reine Stilfrage, ob ein Anwalt Aufträge unter solchen Umständen annimmt.

§ 83 Rili, der dem Anwalt die Verantwortlichkeit für die Mitarbeiter auferlegt, kann als Konkretisierung der dargestellten Grundsätze zur Auslegung des § 43 BRAO herangezogen werden. Das rechtsuchende Publikum rechnet nämlich regelmäßig das (Fehl-) Verhalten der Mitarbeiter des Anwalts diesem zu, so dass das Vertrauen der Mandantschaft auch durch unsachgemäßes oder unseriöses Verhalten der Mitarbeiter Schaden erleidet.

Man kann auch sagen, dass die Feststellungen in § 83 Rili Selbstverständlichkeiten enthalten, denen für die Übergangszeit nichts zu entnehmen ist, soweit die Verantwortung des Rechtsanwalts nicht ohnehin aus der BRAO allgemein und insbesondere aus der Pflicht eine Kanzlei zu unterhalten (§ 27 BRAO), folgt (191).

Allerdings haben die Feststellungen in § 83 Rili eine verdeutlichende Funktion. Dementsprechend hat Zuck § 83 I Rili in § 2 BORA-E mit einer kleinen stilistischen Korrektur übernommen (192)

Der Praxisinhaber ist also zur Belehrung und Kontrolle seiner Mitarbeiter standesrechtlich verpflichtet (193).

Allerdings ergibt eine zurückhaltende, auf den Kerngehalt konzentrierte Anwendung (194) dieser Bestimmung, dass der Umgangston (195) und die Verkehrssicherheit der Betriebsräume (196) standesrechtlich unerheblich ist und dem Stilgefühl bzw. dem allgemeinen Deliktsrecht überlassen bleiben kann (197).